22.12.2020 Druckversion

Keine Schocktherapie – Kuba reagiert auf die Folgen der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat auch Kuba hart getroffen. Während die Kubaner in den „Henry-Reeve-Brigaden“ überall auf der Welt gegen das Virus kämpfen, ist mit dem Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Kuba weggebrochen. Um den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu begegnen, hat Kuba eine Reihe von Maßnahmen vorgezogen, die auf den vergangenen Parteitagen der Kommunistischen Partei Kubas beschlossen worden sind. UZ sprach darüber mit Ramón Ripoll, Botschafter Kubas in Deutschland.
Alltag in Havanna, Anfang Dezember (Foto: Irene Pérez/Cubadebate)
Alltag in Havanna, Anfang Dezember (Foto: Irene Pérez/Cubadebate)

UZ: Das Jahr 2020 war für Kuba äußerst kompliziert: Eine verschärfte Blockade durch die USA, die Pandemie und der damit verbundene Zusammenbruch des Tourismus. Was waren die Auswirkungen?

Ramón Ripoll: In der Tat ist das Jahr 2020 sehr kompliziert für Kuba gewesen, wie man es aber auch für die ganze Menschheit sagen kann. In unserem Fall ist die steigende Aggressivität der Trump-Regierung, die 47 neue Maßnahmen zur Verschärfung der sechzig Jahre andauernden Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade ergriffen hat, dafür der wichtigste Faktor gewesen. Die Schäden, die diese Politik verursacht hat, lagen allein zwischen April 2019 und März 2020 bei 5,57 Milliarden US-Dollar. Dazu gehört ein neues und alarmierendes Element, nämlich die fünf Gesetzespakete aus dem Jahr 2019, die das Ziel verfolgen, Frachtunternehmen und Reedereien, die Treibstoff nach Kuba bringen, zu überwachen und zu bestrafen.

Im vergangenen März kamen dann noch die Auswirkungen der Pandemie hinzu, die uns zwangen, unvorhergesehene Ausgaben verschiedener Art zu tätigen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu garantieren. Das hat wiederum andere Schwierigkeiten bei der Entwicklung unserer internationalen Wirtschaftsbeziehungen und darüber hinaus die völlige Einstellung des Tourismus nach sich gezogen.

 

UZ: Volk und Partei haben sich gegen die Widrigkeiten auf bewährte Weise behauptet. Ein Ergebnis ist die Beschleunigung der bei den letzten Parteitagen beschlossenen Maßnahmen. Können Sie zusammenfassen, was die wesentlichen Änderungen sind?

Ramón Ripoll: Um dieser neuen und komplexen Situation zu begegnen, haben unsere Partei und die Regierung im Juli das Papier „Wirtschaftliche und gesellschaftliche Strategie für einen Wirtschaftsimpuls und die Reaktion auf die Weltkrise durch Covid-19“ beschlossen, welches die Grundprinzipien der Funktionsweise unseres Wirtschaftsmodells berücksichtigt, die den sozialistischen Charakter unseres Prozesses verstärken. Das sind:

  • Beibehaltung der zentralistischen Planwirtschaft,
  • Verteidigung der nationalen Produktion und Eliminierung der Importmentalität,
  • Hauptsächlich durch indirekte Methodik ausgeübte Marktregulierung,
  • Gegenseitige Ergänzung der Wirtschaftsakteure,
  • Dynamisierende Rolle der Binnennachfrage,
  • Größere Autonomie für den Unternehmenssektor,
  • Einführung von Schlüsselaspekten, speziell beim Verhältnis von Unternehmensführung und Eigentum; Neuordnung des Unternehmenssektors und des nichtstaatlichen Bereichs unter Berücksichtigung eines angemessenen Verhältnisses zwischen beiden,
  • Anreize für den Wettbewerb mit besserer Nutzung der materiellen und finanziellen Ressourcen, mit Sparsamkeit, Effizienz und Arbeitsmotivation,
  • aktive Umweltpolitik, die mit der gesellschaftlichen Ordnung harmoniert.

Das ist eine innovative Strategie, die verschiedene Beschlüsse des 6. und 7. Parteitags umsetzt, in einer Linie mit der Verfassung der Republik liegt und die Richtlinien des Konzepts für ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell und des Plans für eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung bis 2030 anwendet. Dazu gehören auch eine Abänderung des Plans für 2020 und die Ausarbeitung eines Wirtschaftsplans für 2021.

 

UZ: Ein Problem ist seit vielen Jahren die Versorgung mit eigenen Lebensmitteln. Nun sollen die Genossenschaften und die privaten Bauern ihre Produkte direkt vermarkten können. Was bedeutet das konkret?

Ramón Ripoll: Die von mir erwähnte Strategie beinhaltet 16 wirtschaftliche und soziale Schlüsselbereiche von größerer Bedeutung für die Wirtschaft und der erste davon betrifft die Nahrungsmittelerzeugung, einen zentralen Aspekt. Aus verschiedenen internen Gründen, zu denen die Blockadefolgen kommen, haben wir heute ein zu großes Lebensmittel-Importvolumen, das zudem die Bedürfnisse unseres Volkes nicht sättigt.

Um das endgültig zu beheben, müssen Lenkung und Finanzierung der Landwirtschaftsindustrie revolutioniert werden, indem die gemeinsamen Wirtschaftsinteressen aller Unternehmensformen zusammenkommen, um Investitionen zugunsten einer maximalen Wertschöpfung und Verbesserung von Böden, Technologien und Ausrüstung zu schaffen. Es ist unabdingbar, dass die Produzenten die Autonomie erhalten, zu säen und zu ernten, sowie, dass auch alle Arten des Besitzes und der Führung von Unternehmen der Nahrungsmittelproduktion vermehrt werden. Es müssen zudem Restriktionen abgeschafft werden, die die Produktivkraftentwicklung hemmen, wofür die jeweiligen Unternehmensführungen perfektioniert werden müssen. Die landwirtschaftlichen Produzenten müssen für den Export Zugang zu Devisen bekommen und brachliegende oder mangelhaft genutzte Böden müssen produzieren. Die Rolle des landwirtschaftlichen Staatsbetriebs wird sich verändern, das System rationalisiert und Bedingungen geschaffen werden für die Entwicklung der anderen Formen der Produktionsbasis. Das Landwirtschaftsministerium wird umstrukturiert und die Autonomie der landwirtschaftlichen Genossenschaften erweitert. Außerdem wird es wirtschaftliche, finanzielle und Infrastrukturmaßnahmen für die Rinderzucht geben und der Zahlungsverzug gegenüber den Erzeugern wird beendet, um einen stärkeren Anreiz zu schaffen und Ungleichgewichte zu vermeiden. Eine angestrebte Selbstversorgung der Kommunen soll auf einem Minimum an Importressourcen basieren und wir priorisieren die Entwicklung von landwirtschaftlichem Export und dessen Verkettung mit den Erzeugern und der nationalen Industrie auf einer Basis der Finanzierung der Ausgaben durch die Einnahmen aus den exportierten Produkten. Bei der Selbstversorgung haben Produkte Vorrang, die von der Bevölkerung stark nachgefragt sind und gleichzeitig weniger Input benötigen und mehr Nutzen mit sich bringen wie Maniok, Banane, Malanga oder Süßkartoffel.

 

UZ: Wie geht es weiter mit der doppelten Währung, die im ersten Halbjahr 2021 auslaufen soll?

Ramón Ripoll: Die Neuordnung des Währungsbereichs ist von außerordentlicher Bedeutung und hat Auswirkungen auf die ganze Wirtschaft. Der kubanischen Bevölkerung ist in den letzten Wochen erklärt worden, dass dieser am 1. Januar beginnende Prozess vier Grundaspekte beinhaltet:

  •     Währungseinheit,
  •     Tauschwerteinheit,
  •     Verbesserung der Einkünfte der Menschen hinsichtlich der Löhne, Renten und Sozialausgaben,
  •     Änderung des Zuschuss- und Gratissystems.


Am 11. Dezember wurde ein Paket von mehr als einhundert juristischen Verordnungen veröffentlicht, in denen die notwendigen Entscheidungen ausgedrückt sind, mit denen die erwähnten vier zentralen Aspekte angegangen werden können. Daraus geht unter anderem hervor, dass der Mindestlohn um ein Mehrfaches heraufgesetzt wird, womit die gleichzeitig zu erwartenden Preissteigerungen ausgeglichen werden können. Weitere Informationen werden in den nächsten Tagen kommen. Um bei der Umsetzung der beschlossenen Strategie vorwärts zu kommen, ist es ein unabdingbarer Schritt, dass jene Verwerfungen ausgemerzt werden, die heute speziell im staatlichen Bereich der Wirtschaft die Effizienz und die Schaffung von Reichtum behindern. Eine Reihe von Maßnahmen, die zu ihrer Zeit notwendig waren und die Zeit überdauert haben, wird abgeschafft und obgleich es innerhalb dieses wichtigen Prozesses unvermeidlich ist, Anpassungen vorzunehmen, haben wir immer wieder gesagt, dass Schocktherapien nicht angewendet werden, wie sie üblicherweise in vielen Ländern gemacht werden.

 

UZ: Eine weitere Stärke Kubas ist die Solidarität, die das Land trotz der Blockade gibt und die alle Industriestaaten der Welt in ihrem Egoismus vorführt. Die Medizinbrigade „Henry Reeve“ ist in vielen Ländern aktiv; nun hat die italienische Insel Sizilien um Hilfe gebeten. Gleichzeitig verunglimpfen manche Politiker die Hilfe Kubas als „Sklavenhandel“. Was sagen Sie dazu?

Ramón Ripoll: Seit dem Sieg der Revolution haben wir internationale Solidarität praktiziert – nicht einfach gebend, was wir übrig hatten, sondern indem wir teilten, was wir hatten. Und das war wegen der Blockade weit weniger, als wir hätten haben können. Das beste Beispiel ist der Beitrag Tausender Kubaner zur Niederlage der Apartheid in Südafrika, trotz der Gefahr für ihr eigenes Leben und ohne jeden materiellen Anspruch. Als das geschah, haben die, die uns heute als „Sklavenhändler“ beschuldigen, die Verbrechen der südafrikanischen Rassisten nicht verurteilt, sondern Nelson Mandela und den ANC als „Terroristen“ bezeichnet. Wie es Fidel erklärt hat: Die Imperialisten konnten nicht verstehen, dass Kuba die afrikanischen Völker unterstützte ohne jedes materielle Interesse. Daher können sie auch die medizinische Zusammenarbeit nicht verstehen, die Kuba anderen Ländern gibt, die darum bitten, und die in vielen Fällen keinerlei wirtschaftlichen Gewinn einbringt. Es ist nicht möglich, dass das diejenigen mit der mächtigsten Wirtschaft der Welt verstehen, wenn sie selbst nicht verhindern, dass 15 Millionen Landsleute durch die Pandemie angesteckt wurden, von denen 288.000 das Wertvollste, ihr Leben, verloren haben. Es kann nicht überraschen, dass die, die unser Gesundheitspersonal als Sklaven bezeichnen, auch nicht begreifen, dass 53 Gesundheitsbrigaden treu zu unserer humanistischen Berufung in 39 Ländern den Kampf gegen die Krankheit aufgenommen haben. Sie kommen zu denen hinzu, die schon als Antwort auf Covid-19 Dienst in 59 Staaten versehen haben, wie es unser Präsident am 3. Dezember in der außerordentlichen, virtuellen 31. Periode der Vollversammlung der Vereinten Nationen erklärt hat.

 

UZ: Vor wenigen Tagen wurde bestätigt, dass im April 2012 der 8. Parteitag der Kommunistischen Partei stattfinden soll, wie es das Zentralkomitee bereits Ende 2019 angekündigt hatte. Was werden neben den personellen Fragen wie der Wahl eines neuen Ersten Sekretärs in Nachfolge von Raúl Castro die bestimmenden Themen sein?

Ramón Ripoll: Der Parteitag wird sich auf die Bewertung und Projektion von Beschlüssen großer Wichtigkeit für Gegenwart und Zukunft des Landes konzentrieren, wie es die Aktualisierung des „Konzepts des kubanischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sozialistischer Entwicklung“ und die der Einführung der „Richtlinien der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik von Partei und Revolution“ sind. Er beschäftigt sich zudem mit den wirtschaftlich-sozialen Ergebnissen seit dem letzten Parteitag und er wird die Funktionsweise der Partei, ihre Verbindung zu den Massen, die ideologische Aktivität und die Kaderpolitik in der Partei, der Unión de Jóvenes Comunistas (UJC, Kommunistischer Jugendverband), den Massenorganisationen und in der Regierung analysieren. Das wird erlauben, unsere Strategie von Widerstand und Entwicklung auf den Stand zu bringen, und eine Stimulanz für die Teilnahme der Mitgliedschaft, der Revolutionäre und Patrioten bei den Lösungen darstellen, die gebraucht werden, um der akuten weltweiten Krise zu begegnen und die Transformationen weiterzuführen, die die nationale Wirtschaft stärken können. Um diese Vorhaben zu erreichen, bauen wir auf unsere Kampf­erfahrung beim Aufbau des Sozialismus als einzige Entwicklungsoption – und auf das Beispiel Fidels.

Unsere martíanische, fidelistische, marxistische und leninistische Einheitspartei hat eine hohe Verantwortlichkeit bei der Erhaltung der Einheit, dem strategischen Faktor für den Sieg. Der 8. Parteitag vom 16. bis zum 19. April 2021 wird einer des ganzen Volkes sein und mit dem 60. Jahrestag des Sieges in der Schweinebucht zusammenfallen. Es wird ein Parteitag der Kontinuität sein, die sich im allmählichen und geordneten Übergang der Hauptverantwortlichkeiten im Land an die neuen Generationen ausdrückt – mit der Gewissheit, dass die Revolution sich nicht auf die beschränkt, die sie am 1. Januar 1959 zum Sieg geführt haben, sondern Sache des Willens und des Engagements derjenigen ist, die sie zu ihrer Sache gemacht haben und fortführen werden.

 

Das Interview führte Günter Pohl. Es ist erschienen in der Wochenzeitung unsere zeit am 24 Dezember 2020.
Quelle: https://www.unsere-zeit.de/keine-schocktherapie-139723/

 

Ramón Ripoll war Wirtschaftsattaché in der DDR-Botschaft der Republik Kuba (1981 bis 1987) und in der BRD-Botschaft Wirtschaftsrat (1997 bis 2002). Seit Dezember 2017 ist er Botschafter.

Veröffentlicht in Aktuelles | Tags: Blockade, Kuba, Menschenrechte, Solidarität