Kampf um Kuba
Anfang 2008 sorgte ein Konzert in Havanna für Aufsehen. Das Reggaeton-Event kostete die Gäste den stolzen Eintrittspreis von 100 Konvertiblen Peso (CUC), also 100 US-Dollar. Trotz des immensen Kartenpreises füllte sich der Rote Salon des Hotels Capri in der kubanischen Hauptstadt, nicht wenige Gäste fanden am Ende sogar keinen einlass mehr. Als der Künstler dieses Abends der monatlich erscheinenden Debattenzeitung La Calle del Medio wenige Wochen Später ein Interview gab, fand er eine erstaunliche Begründung: „Wenn wir nicht den Eintrittspreis von 100 CUC verlangt hätten (...), hätten uns viele Gäste nicht sehen können, an denen wir interessiert sind.“ Zu dieser Zielgruppe zählte er Künstler, Sportler und Maler, „das übliche VIP-Publikum, das man in allen Ecken der Welt antrifft“.
Der kubanische Journalist und Essayist Enrique Ubieta griff den Fall damals in seinem Interview und in weiteren Beiträgen der Zeitung La Calle del Medio auf, die er als kulturpolitisches Forum mitbegründet hat. Die Anekdote und seine Analyse findet sich nun in seinem neuen Buch mit dem Titel „Cuba: ¿revolución o reforma?”, das er auf der 21. Internationalen Buchmesse in Havanna vorstellte. In Kuba, so Ubietas zentrale These ist ein Kulturkampf im Gange, der von den seit Beginn der 1990er Jahre wachsenden materiellen Unterschieden befeuert wird. Das gilt vor allem für den urbanen Raum. Seit der jüngsten Liberalisierung des Wohnungsmarktes und dem freien Verkauf von Wohnraum sind die Grundstückspreise binnen weniger Wochen in die Höhe geschossen. Nicht wenige Häuser werden in Havanna inzwischen für Hunderttausende US-Dollar gehandelt, während am Malecón, der Strandpromenade, ein zweigeschossiges Penthouse mit Personal und Swimmingpool für 1.000 CUC am Tag zu mieten ist.
Ubieta untersucht die kulturellen Folgen dieser wachsenden materiellen Kluft, die vor allem in Havanna manifest wird, und führt zahlreiche Beispiele an. Mit der zunehmenden internationalen Mobilität der kubanischen Bevölkerung und transnationalen Netzwerken (zu deren Entstehen immer auch die Solidaritäts- und entwicklungspolitische Arbeit beiträgt) habe sich seit Beginn der 1990er Jahre die Werteskala in Kuba verschoben, argumentiert der Autor. Ein Ergebnis sei unter anderem die Jugendkultur der sogenannten Miquis – Heranwachsenden, die großen Wert auf Markenkleidung legen und den Trends der westlichen Mode- und Musikindustrie folgen. Die Miquis etablierten vor allem in den Städten exzessive Feiern mit westlicher Techno- oder Popmusik in Privathäusern, für die über eigene Netzwerke über Mund-zu-Mund-Propaganda mobilisiert wurde. Zugleich grenzen sie sich deutlich von den Jugendlichen aus den ärmeren Vororten der Städte ab, den Reparteros, die vor allem lateinamerikanische Musik hören und aus Mangel an Finanzmitteln keinen spezifischen Modetrends folgen.
Eine Konkurrenz zwischen Jugendkulturen der traditionell wohlhabenden Bevölkerungsteilen und der subalternen Schichten der kubanischen Bevölkerung hatte es nach Ausführungen des Autors auch nach der Kubanischen Revolution in den 1970er Jahren gegeben. Damals, schreibt Ubieta, seien die einen, die Reicheren, als Pepillos, bezeichnet worden, während man die ärmeren als Guapos oder Cheos kannte. Der zunehmend ungleiche Zugang zu Devisen seit Anfang der 1990er Jahre habe die soziale Kluft aber verbreitert und damit auch die kulturellen Differenzen sichtbarer gemacht. Ubieta plädiert daher für eine offene Debatte, die parallel zu den wirtschaftlichen Reformen geführt werden sollte, die in Kuba als „Aktualisierung des wirtschaftlichen Systems“ bezeichnet werden. Mit der Publikation seines Essaybandes habe er daher bis zum 6. Parteitag der regierenden Kommunistischen Partei Kubas (PCC) gewartet.
Dabei setzt sich der Autor nicht nur mit den neuen Phänomenen in der kubanischen Gesellschaft auseinander, sondern auch mit jenen Akteuren, die eine Restauration des Kapitalismus in Kuba fordern. Das Novum des Buches von Ubieta ist, dass er diese Wortführer innerhalb und außerhalb Kubas beim Namen nennt und damit in einen direkten Dialog tritt. Das ist beachtlich, selbst wenn der Autor im Vorwort betont, dass „es nicht darum geht, sich an Personen abzuarbeiten, sondern um eine Auseinandersetzung (...) mit Positionen und Argumenten“ anti- oder eben konterrevolutionärer Vertreter.
In seiner Betrachtung greift Ubieta dabei weit in die Geschichte des Landes zurück. Bereits im 19. Jahrhunderts habe es in der kubanischen Politik einen Disput zwischen unterschiedlichen konservativen Strömungen gegeben: Auf der einen Seite standen die Autonomisten, die sich für ein freies Kuba einsetzten, auf der anderen Seite die Annexionisten, die den Anschluss an die USA suchten. Beide Denkrichtungen aber seien im Kern reformistisch gewesen, weil sie sich aufgrund ihrer elitären Klassenposition gegen revolutionäre Basisbewegungen abgrenzten. Gemein sei ihnen „Misstrauen und Angst“ gegenüber dem Volk gewesen, so Ubieta, der beiden Strömungen das Ziel einer elitären Klassenherrschaft bescheinigt. Auch die aktuellen gesellschaftlichen Konflikte in Kuba müsse man daher vor dem Hintergrund materiell begründeter Gegensätze zwischen revolutionären und reformistischen Positionen betrachten, schreibt Ubieta, um das Kräftemessen in erster Linie kulturpolitisch zu analysieren. Wenn in Kuba der Status als VIP, also als gesellschaftliche Persönlichkeit, an der Möglichkeit gemessen werde, 100 umgerechnet US-Dollar für ein Konzert zu zahlen, dann gebe es offenbar Gesprächsbedarf. „Dann brauchen wir eine Auseinandersetzung mit der weltweit dominanten Ideologie, der bürgerlichen Ideologie“, sagte er bei der Präsentation seines Buches auf der Messe in Havanna. Dem gegenüber habe er sich an dem guevaristischen Konzept des Neuen Menschen orientiert, „an dem Streben nach einer neue Gesellschaft also“.
Der spanische Autor Santiago ALBA, der das Buch Ubietas in der alten Kommandantur Ernesto Che Guevaras auf der Festungsanlage über dem Hafen von Havanna vorstellte, hob die kreativen Vergleiche und hintergründigen Fragestellungen hervor. Das Buch hinterfrage Konzepte des Heroismus, indem etwa die Figuren US-amerikanischer Superhelden, zugleich eine Allegorie auf die Supermacht USA im internationalen Konzert, dem Einsatz der kubanischen Ärztekollektive in Ländern der sogenannten Dritten Welt gegenübergestellt werden. Wer gilt in Kuba als Held? Und wie werden Weltbilder, Werte und Empfindungen geschaffen?
Die Fragen Ubietas (und anderer zeitgenössischer kubanischer Essayisten) zeigen die Tiefe der gesellschaftspolitischen Debatte in Kuba und beweisen damit zugleich den Unterschied des kubanischen Systems zu den historischen sozialistischen Systemen Mittel und Osteuropas, denen eine solche Selbstreflexion fremd war. Bücher wie das Ubietas belegen zugleich, wie oberflächlich das aktuelle Kuba-Bild in Deutschland ist, nach dem die Politik des Landes allein in Partei und Regierung verhandelt wird. (Harald Neuber, Havanna)