Maulkorb für die kubanische Zivilgesellschaft
Im lauschigen Patio unter den Schatten spendenden Bäumen des Sitzes der Kubanischen Vereinigung der Vereinten Nationen gab es zunächst ein freudiges Wiedersehen. Norma Goicochea begrüßte unsere Delegation herzlich – viele von uns kennen sie als frühere Botschafterin in Brüssel, wo sie Kuba in den Benelux-Staaten und bei den Europäischen Institutionen repräsentierte. Seit November 2021 leitet sie nun die Kubanische Vereinigung der Vereinten Nationen (ACNU).
Die ACNU wurde 1947 gegründet und begeht am 30. Mai 2022 ihr 75jähriges Jubiläum. Heute gehören ihr 137 Mitgliedsorganisationen und Einzelpersonen an. Aufgabe der ACNU ist es, die Werte der Charta der Vereinten Nationen in Kuba zu fördern und sich multilateral für die Teilhabe aller Menschen daran einzusetzen. „Kubas Innen- und Außenpolitik spiegelt Frieden, Verständigung und soziale Gerechtigkeit wider; wir wehren uns gegen Ausgrenzung, Doppelmoral, Arroganz und die Verurteilung jener Länder, die einen selbstbestimmten Weg wählen“, leitete Norma den Erfahrungsaustausch ein.
Wie schwierig es jedoch für Kubas Zivilgesellschaft ist, auf internationaler Ebene diese Werte zu vertreten, über ihre Umsetzung in Kuba zu berichten und in den Austausch mit anderen zu treten, wurde im Gespräch mit den anwesenden Vertreter*innen verschiedener Vereine deutlich.
María de los Angeles vom Behindertenverband ACLIFIM, Ana Milagros Martínez vom Wissenschaftlichen Beirat des Gesundheitsministeriums, Tania Echevarría von der Schriftstellervereinigung UNEAC, María del Carmen Cejas von der Kubanischen Vereinigung für Tierproduktion ACPA, Alina Castillo vom Verband zur Förderung der kubanischen Land- und Forstwirtschaft sowie des Tabakanbaus ACTAF, Lil María Peach von der Gesellschaft zur Förderung der Ideen von José Martí sowie Alois Arencibia von Cubasolar zur Förderung erneuerbarer Energien waren unsere Gesprächspartner dieses Nachmittags. Sie repräsentierten einen Querschnitt der kubanischen Zivilgesellschaft.
Ein Großteil dieser Organisationen ist im ECOSOC vertreten, dem ökologischen und sozialen Rat der Vereinten Nationen. Dieser hat eine beratende Funktion. Einstimmig berichteten die Anwesenden jedoch, wie ihnen trotz dieser offiziellen Mitgliedschaft in einem Gremium der Völkergemeinschaft die Teilnahme an internationalen Begegnungen verwehrt wird. Konkret ging es um den am 8. und 9. Juni 2022 in Los Angeles stattfindenden Gipfel der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Neben den politischen Treffen der Vertreter*innen der teilnehmenden Staaten sieht die Agenda auch umfangreiche Begegnungen der Zivilgesellschaft vor.
Bei unserem Besuch, der am 3. Mai 2022 stattfand, zeichnete sich bereits ab, dass Kuba durch den Gastgeber USA nicht eingeladen werden würde. Zwei Tage später war dies offiziell. Insofern war nachvollziehbar, warum die kubanischen Organisationen der Zivilgesellschaft auf ihre rechtzeitig eingereichten Anmeldungen von den Organisatoren des Gipfels nicht einmal eine Empfangsbestätigung erhalten hatten – weder für die persönliche noch für die Teilnahme an Online-Veranstaltungen.
„Kubas Zivilgesellschaft wird nicht anerkannt und ihr wird ein Maulkorb verpasst – ausgerechnet von jenen, denen die Werte der Demokratie und bürgerlichen Rechte angeblich so sehr am Herzen liegen,“ brachte es die ACTAF-Vertreterin auf den Punkt. „Unseren Vereinen und Verbänden wird die Möglichkeit verwehrt, ihre Arbeit zur Entwicklung der Gesellschaft vorzustellen und in den Austausch mit anderen teilnehmenden Organisationen zu treten – das ist ein entschiedener Verstoß gegen die Grundrechte der Meinungs- und Redefreiheit!“, kritisiert María de los Angeles von ACLIFIM. Der Cubasolar-Vertreter ergänzt: „Dieses Vorgehen steht in krassem Widerspruch zu der angeblichen Bedeutung, die der Zivilgesellschaft in Europa und der westlichen Welt beigemessen wird. Die westlichen Staaten maßen sich an zu entscheiden, welche Art der Zivilgesellschaft die angeblich richtige und die falsche ist.“
Schnell kam im weiteren Gesprächsverlauf das Thema der US-Blockade und die Verleumdungskampagne gegen Kuba auch in anderen Zusammenhängen zur Sprache.
Alois Arencibia berichtete über den Erfolg von Cubasolar beim Thema Energiewende. Lange Zeit wurden dem Einsatz und der Förderung erneuerbarer Energien in Kuba wenig Priorität eingeräumt, doch der Verband blieb hartnäckig. Inzwischen strebt Kuba die grundlegende Transformation seiner Energiematrix an, will die mit mehr als 50 % nach wie vor hohe Abhängigkeit von fossilen Energieträgern beträchtlich reduzieren. Die Zeit drängt angesichts des Klimawandels, „doch die Verschärfung der US-Blockade mit ihren Auswirkungen auf internationale Finanztransaktionen zur Bezahlung oder Kreditnahme erschwert die Beschaffung benötigter Anlagen und schreckt potentielle Investoren ab. Die stetig steigenden Preise auf dem Weltmarkt tun ihr übriges. Das alles hemmt unsere Entwicklung in diesem Bereich“, erläutert er.
Über ähnliche Erfahrungen berichtet Alina Castillo von ACTAF: Ihre Organisation entwickelt derzeit einen Bericht, in welchem Maßstab die US-Blockade die Arbeit von ACTAF im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit einschränkt. Dieser Bericht soll an OXFAM übermittelt werden, um eine größere Reichweite und internationale Aufmerksamkeit zu erzielen. Viele ihrer Programme im Bereich der Ernährungssicherheit sowie Aufklärungskampagnen für eine gesunde und vollwertige Ernährung entsprechen den nationalen Entwicklungszielen und werden im Juni der Nationalversammlung vorgestellt. Gleichwohl sind viele Projekte der internationalen Zusammenarbeit gefährdet, weil die USA all jenen mit Sanktionen und astronomischen Strafen drohen, die mit Kuba zusammenarbeiten. Zudem dürfen keine Maschinen oder Geräte eingeführt werden, die mehr als 10 % Komponenten aus US-amerikanischer Fertigung enthalten.
Unser Gespräch streift weiterhin Heil und Unheil der Arbeit politischer Stiftungen in Lateinamerika, deren Aufgabe oftmals in der Verbreitung und Festigung neokolonialer Denk- und Handelsmuster besteht. Könnte eine gemeinsame Stiftung der ALBA-Staaten ein Gegengewicht schaffen? Könnten über solche Strukturen die Ideen José Martís für ein freies und geeintes Amerika noch mehr Wirksamkeit entfalten? Eine bessere Welt wäre möglich!
Zum Ende unseres Austauschs holt uns die verlogene Realität der medialen Verleumdungskampagne ein. Angeblich sei in westlichen Medien berichtet worden, dass sich die Großkundgebung zum Ersten Mai gegen die Regierung gerichtet habe. Wir sind empört!
Was kann die Solibewegung tun angesichts der Übermacht des Imperiums in Politik, Wirtschaft und Medien? Wie können wir auf diese Behinderung der kubanischen Zivilgesellschaft aufmerksam machen? Wir waren uns einig – unablässig müssen wir mit konkreten Beispielen aus erster Hand wie diesen auf die verlogene Heuchelei und anmaßende Doppelmoral hinweisen, mit der Bürgerrechte und demokratische Strukturen nur nach dem Strickmuster der sogenannten westlichen Demokratien gelten. Es gilt, diese Widersprüche aufzudecken, anzuklagen und zu protestieren gegen Ausgrenzung und Verleumdung.
Norma Goicochea ermutigte uns vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung mit den europäischen Institutionen und stellvertretend für die Solibewegung, unsere Rechte als europäische Bürgerinnen und Bürger kontinuierlich wahrzunehmen: „Nutzt die vorhandenen Strukturen der Bürgerbeteiligung, damit aus der Solibewegung der europäischen Länder Widerspruch erfolgt gegen die Verleumdung unserer kubanischen Wirklichkeit!“
Sie schließt mit bewegenden Worten: „Eure Aktionen, die Öffentlichkeit herstellen und über Kuba und seine Realität aufklären, sind ein ganz vitaler und wertvoller Beitrag der Solibewegung! Denn das stärkt die Moral und die Widerstandskraft in der kubanischen Bevölkerung – Cuba no está sola! Kuba ist nicht allein! Euer Beitrag hilft konkret, die Revolution und die Souveränität Kubas zu verteidigen! Seguimos en combate!“ – Ja, der Kampf geht weiter.
Miriam Näther