Väterchen Stalin in Kuba
Der mexikanische Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II ist – neben seinem mehrfach ausgezeichneten Werk – maßgeblich für zwei Dinge berühmt: Für seinen exzessiven Tabak- und Coca-Cola-Konsum und für seine Polemiken. Und was eignet sich für letzteres mehr, als ein Buch über den Stalinismus? Das wird schon im Titel des 150-Seiten Bändchens deutlich, das vom Mexiko-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf der 23. Internationalen Buchmesse in Havanna vorgestellt wurde. "Padrecito Stalin, ¡no vuelvas!" heißt die Anthologie mit Texten von Annie Kriegel, Erst Fisher, Isaac Deutscher, Víctor Serge, Howard Fast, Leo Troski und eben Paco Ignacio Taibo II. "Väterchen Stalin", könnte man das übersetzen, "bleib bloß wo du bist." Auf dem Titel prangt ein bronzener Stalin vor den Strahlen einer stilisierten Sonne.
Sein Vorwort und die Präsentation im José-A.-Portuondo-Saal der alten Festungsanlage San Carlos de La Cabaña leitete Taibo mit einer Feststellung eines in Mexiko exilierten Kommunisten ein. "Stalin hat die Ermordung von mehr polnischen Kommunisten angeordnet als Hitler", habe dieser ihm gesagt. Als Taibo II das Zitat später in einer Debatte in Mexiko anführte, musste er sich von Anhängern Stalins harte Kritik über sich ergehen lassen. Als seine Kontrahenten keine Argumente mehr hatten, habe einer ihm entgegengehalten, Stalin habe die polnischen Kommunisten nicht ermorden, sondern "richten lassen".
Warum aber Stalin im Jahr 2014 in Havanna diskutieren? "Weil die politische Linke angesichts der Debatte über neue Gesellschaftsmodelle ohne Zweifel aus den Fehlern der Vergangenheit lernen muss", schreibt Torge Lösing, Leiter des Mexiko-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Vorwort zu dem Band, dessen Präsentation in Havanna von dem Journalisten und Lateinamerikanisten Harald Neuber moderiert wurde. Löding verwies auch darauf, dass Rosa Luxemburg kurz vor ihrer Ermordung durch faschistische Freicorps 1919 Lenin mit Fragen zur demokratischen Verfasstheit des Sowjetstaates konfrontiert habe. Der von Moskau deklarierte "Kriegskommunismus" hatte demokratische Strukturen zu diesem Zeitpunkt bereits sichtbar zurückgedrängt.
Die Debatte, die in Deutschland wohl gute Chancen gehabt hätte, in einem Eklat zu enden, wurde in Havanna in einem souveränen und solidarischen Klima geführt. Dazu gehörte auch die Präsenz des kubanischen Revolutionärs und Historikers Fernando Martínez Heredia auf dem Podium. Das Mitglied der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) stellte das Buch den rund 80 Gästen mit einer ausführlichen Rezension vor. "Als Kubaner meiner Generation weckt das Thema dieses Buches in mir alte Erinnerungen und als Kubaner der heutigen Zeit messe ich ihm einen enormen Wert bei", sagte Martínez Heredia. Unter den lateinamerikanischen Volksrevolutionen habe Kubas Revolution stets eine Vorreiterrolle bei der Vereinigung von Sozialismus und Befreiung gespielt, sagte er. Und dies habe letztlich zum Sieg und zur Konsolidierung der Kubanischen Revolution geführt. "Die Wirkung dieser Revolution war für den US-amerikanischen Imperialismus unentschuldbar, und stellte für das dominante System der UdSSR, das den Sozialismus für sich beanspruchte, zugleich einen schwer zu verkraftenden Affront dar", sagte der Kommunist und Historiker. Zugleich aber hätten die stetigen Angriffe der USA und ihrer Alliierten Kuba "in eine so starke und lange währende Abhängigkeit zu der Sowjetunion, wie dies keinem anderen Land dieses Kontinents widerfahren ist". In Folge sei der Einfluss Moskaus auf die Kubanische Revolution sehr groß gewesen, stellte Martínez Heredia fest. "Allerdings waren wir immer auch widerspenstige Marxisten, wirkliche Internationalisten, Kubaner, Lateinamerikaner, wir gehörten der westlichen Welt an und waren entschiedene Feinde jedweder Kolonisierung. Wir waren Anhänger der Modernisierung, lehnten sie aber in ihrer reinen bürgerlichen Form ab. Wir konnten mit der Orthodoxie nichts anfangen, sondern waren Freigeister."
Der Begriff des "Stalinismus" freilich würde zu kurz fassen, um die bolschewistische Revolution in ihrer Ausprägung der 1930er Jahre bis in die 1950er Jahre zu erfassen, fügte der kubanische Historiker an. Dennoch sei es auch wichtig festzustellen, "dass der Kriminelle Stalin seine Funktion als höchster Amtsträger pervertiert hat und dass er ein Mörder war, der das Blut seiner Genossen kübelweise vergießen ließ". Unter diesen Bedingungen habe die bolschewistische Revolution nicht überleben können, so Martínez Heredia.
Die Präsentation des Buches und die Debatte in Havanna waren aus zwei Gründen beachtenswert. Zum einen hat sie gezeigt, dass im sozialistischen Kuba heute offen über Fehler der Vergangenheit diskutiert wird – wozu unter anderem auch der Einfluss der sowjetischen Kulturpolitik im sogenannten Quinquenio Gris zählt, dem "Grauen Jahrfünft" Anfang der 1970er Jahre. Zum anderen können linke Kräfte im sozialistischen Kuba die Debatte über die Verbrechen unter Stalin offen führen, ohne dass sie unter dem Druck der bürgerlichen Öffentlichkeit und reformistischer Kräfte einem letztlich antikommunistischen Diskurs dient und – wie im Fall der LINKEN – fortschrittliche Kräfte in den eigenen Reihen zu diskreditieren versucht.