11.01.2012 Druckversion

Die reale Nachfrage nach Essen

Ein neuer FAO-Bericht sprengt den Mythos, wonach ein vermehrter Getreidekonsum in Entwicklungsländern zu höherer Nachfrage und steigenden Preisen führe

Von Jayati Ghosh [*]

Seit der globalen Nahrungskrise von 2007/2008 hält sich in vielen Teilen der Welt die Ansicht, dass einer der Hauptgründe für die Preiserhöhungen bei Nahrungsmitteln - vor allem Getreide - in der steigenden Nachfrage von Ländern wie China und Indien bestehe. Allenfalls hat sich diese Wahrnehmung noch verstärkt, seit die Preise wieder angestiegen sind, vor allem seit Anfang 2010.

Auf den ersten Blick erscheint so eine Wahrnehmung ziemlich vernünftig. Schließlich haben sowohl China wie Indien riesige Bevölkerungen, zusammen etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung. Ihre Ökonomien sind beide rasch gewachsen, viel schneller als im Rest der Welt, sodass die Prokopfeinkommen von einer relativ niedrigen Basis aus zugenommen haben. Es ist bekannt, dass, wenn die Einkommen von einem niedrigen Stand aus zunehmen, die Leute dazu tendieren, mehr Getreide zu konsumieren - nicht unbedingt direkt, sondern indirekt über den Verzehr von Produkten von Tieren, die mehr Getreide als Futter konsumieren.

Weshalb es nur der Erwartung entspräche, dass steigende Einkommen in China und Indien sich in einer wachsenden Nachfrage nach Getreide auswirken würden. Dies könnte dann allerdings das globale Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage auf eine Weise beeinflussen, dass die Preise steigen würden. Erwartet ja, aber kam es tatsächlich auch dazu?

Es stellt sich heraus, dass es in diesen beiden großen Ländern kaum eine Veränderung in der Verzehrrate von Getreide gegeben hat, und wenn, dann eher eine Senkung. Und der globale Getreidekonsum für alle Ernährungszwecke hat in den letzten Jahren im Vergleich mit früheren Perioden sogar abgenommen.

Dies ergibt sich sehr klar aus einem neuen Bericht des von der FAO bestellten High Level Panel of Experts [1], um die Volatilität von Rohwarenpreisen und ihre Beziehung mit Ernährungssicherheit zu studieren. Der Bericht beinhaltet eine sorgfältige Einschätzung sowohl der aktuellen Trends wie auch der verschiedenen Versuche, die Preisveränderungen zu erklären. Dabei demontiert sie den Mythos vom wachsenden Konsum in Entwicklungsländern, der zu einer höheren Nachfrage und damit zu höheren Getreidepreisen führen soll.

Nehmen wir die gelieferten Daten zu den Raten der Veränderung, wie sie die Grafik [*] zeigt. Die Wachstumsrate für den gesamten Getreidekonsum war in der Zeit seit 2000 beträchtlich geringer als in den 1960er und 1970er Jahren, und nur etwa so hoch wie in den 1980ern. Sie stieg gegenüber den 1990er Jahren, aber nur geringfügig. Und entgegen der landläufigen Meinung stieg der Futterkonsum für Viehbestände langsamer an als der direkte (Nicht-Futter-)Konsum.

Tatsächlich hält der Bericht fest, dass sogar die scheinbare Beschleunigung der Viehfütterung im letzten Jahrzehnt im Wesentlichen auf die Erholung der Viehfütterung in der früheren Sowjetunion nach den 1990er Jahren zurückgeht. Sodass also trotz der boomenden Nachfrage nach Fleisch im schnell wachsenden Asien das Anwachsen des Futterkonsums sich real nicht beschleunigt hat. Es hat sich im Gegenteil etwas verlangsamt.

Tatsächlich zeigen die Bilanzstatistiken der FAO [2], dass sowohl die direkte wie die indirekte Nachfrage nach Getreide in China und Indien zwischen 2000 und 2007 kaum gestiegen sind, die Getreideimporte gingen sogar zurück. Warum dem so ist und warum sich das Wirtschaftswachstum nicht in eine größere Gesamtnachfrage nach Getreide übersetzt hat, ist natürlich eine faszinierende Frage, die genauer betrachtet werden muss. Es ist wahrscheinlich, dass die sich verschlechternde Einkommensverteilung in beiden Ländern damit etwas zu hat, sodass eine gestiegene Nachfrage der Gruppen mit hohen Einkommen durch eine reduzierte Nachfrage von ärmeren Sektoren aufgewogen wurde. Aber das bedarf einer weiteren Abklärung.

Relevant ist, dass es nicht eine gesteigerte Nachfrage aus China und Indien ist, welche die Getreidepreise hochtreibt. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht andere Nachfragefaktoren am Wirken sind. Finanzspekulation in den Rohstoffmärkten ist klar signifikant, doch es stimmt auch, dass sogar diese Spekulation auf gewissen Einschätzungen der sich verändernden globalen Bilanzen gründen muss.

Der FAO-Bericht hat auch darauf eine überzeugende Antwort: Er hält fest, dass der Biotreibstoffboom auf die Weltnachfrage nach Getreide und Pflanzenöle einen wichtigen Einfluss gehabt hat. Auf Seite 32 hält der Bericht fest, dass "es aufgrund der Biotreibstoff-Entwicklung eine reale Beschleunigung des Nicht-Ernährungs-Gebrauchs gibt. Schließt man Gebrauch für Biotreibstoff aus, ist die Wachstumsrate von Nicht-Ernährungs-Gebrauch verglichen mit den 1990er Jahren stabil und liegt markant unter ihrer historischen Performance. Ohne Biotreibstoff liegt die Wachstumsrate des globalen Getreidekonsums bei 1,3 Prozent, verglichen mit den 1,8 Prozent für Biotreibstoff."

Diese massiv erhöhte Nachfrage wegen des Biotreibstoffs ist hauptsächlich auf die sehr großen Subventionen in manchen westlichen Ländern zurückzuführen, die ironischerweise die Subventionen von Biotreibstoff gesteigert und diejenigen für Nahrungsanbau reduziert haben. Abgesehen von ein paar Produzenten wie Brasilien oder Kuba, wäre die Produktion von Biotreibstoff ohne diese großen Subventionen an den meisten Orten unrentabel.

Bei den Speiseölen wirken sich die Subventionen sogar noch stärker auf das Umleiten der Produktion und die Preise aus. Der Bericht zeigt: "Der Gebrauch von Pflanzenölen ist zwischen den 1990er und 2000er Jahren zurückgegangen (von 4,4 Prozent im Jahr auf 3,3 Prozent), doch ist der von der europäischen Biotreibstoffindustrie angestoßene industrielle Gebrauch von Pflanzenölen empor geschnellt. Im Resultat stieg der Anteil des globalen industriellen Konsums von Pflanzenölen zwischen 2000 und 2010 von 11 auf 24 Prozent."

Der überraschende Schluss aus all dem ist, dass sich, lässt man die Auswirkungen des Biotreibstoffbooms der 2000er Jahre außer Betracht, der weltweite Konsum sowohl von Getreide wie auch von Speiseölen real verlangsamt. Es ist deshalb umso tragischer, dass es spekulativen Kräften immer noch erlaubt ist, in den globalen Rohwarenmärkten Amok zu laufen, und die globalen Nahrungsmittelpreise derart hoch gehalten werden, dass die Deprivation von Millionen von Hungernden in der Welt verschärft wird.

Die Autorin ist Wirtschaftsprofessorin an der Jawaharlal-Nehru-Universität in New Delhi und Exekutivsekretärin von Ideas (International Development Economics Associates). Sie schreibt regelmäßig Kolumnen in indischen Medien und ist Mitglied eines Beratungsgremiums für den indischen Premierminister. Jayati Ghosh ist in einer Reihe progressiver Organisationen und sozialer Bewegungen engagiert.

Erschienen in Correos de las Américas Nr. 167, 11. Oktober 2011 http://zas-correos.blogspot.com/2011/10/inhaltsverzeichnis-correos-167.html

[*] Blog auf The Guardian, 5.8.11: The truth about the global demand for food.
http://www.guardian.co.uk/global-development/poverty-matters/2011/aug/02/global-demand-for-food

[1] Price volatility and food security. A report by the High Level Panel of Experts on Food Security and Nutrition, Hukly 2011 http://www.fao.org/cfs/cfs-hlpe/report-1-price-volatility

[2] http://faostat.fao.org/site/368/DesktopDefault.aspx?PageID=368

 

Der ganze Beitrag auch zum Herunterladen:

http://www.welt-ernaehrung.de/wp-content/uploads/2012/01/hunger-ghosh.pdf

Veröffentlicht in Standpunkt | Tags: Agroindustrie, Biosprit, Ernährung, Hunger