Literatur und Debatten in Havanna
Havanna. In der kubanischen Hauptstadt Havanna hat am Freitag mit der 23. Internationalen Buchmesse eine der wichtigsten Literaturveranstaltungen in Lateinamerika begonnen. Die Messe in Havanna ist – statistisch gesehen – die zweitgrößte Exposition in Lateinamerika, übertroffen nur von der Buchmesse im mexikanischen Guadalajara. Vor allem aber ist die jährlich Mitte Februar stattfindende Veranstaltung eine Art Familientreffen der fortschrittlichen Kräfte Lateinamerikas.
Neben dem brasilianischen Befreiungstheologen Frei Betto ist die ecuadorianische Schriftstellerin und amtierende Verteidigungsministerin María Fernanda Espinosa in Havanna ebenso zu Gast wie der kolumbianische Historiker Alfonso Muñera, die argentinische Journalistin Stella Calloni und der uruguayische Schriftsteller Fernando Butazzoni. Aus Europa sind neben dem französischen Politologen und Buchautor Salim Lamrani der luxemburgische Schriftsteller Jean Portante, Carlo Frabetti aus Italien und der ehemalige Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, anwesend.
Die Literaturschau steht mit Ecuador als Mitgliedsstaat des linken Länderbündnisses ALBA im Zeichen der politischen und wirtschaftlichen Integration Lateinamerikas. In ihrem Grußwort bei der Eröffnungsmatinee erinnerte die Präsidentin des Vorbereitungskomitees, Zuleica Romay, an die Kultur des Widerstandes in Ecuador. Sie reiche bis zu den Ureinwohnern zurück, die sich gegen die spanischen Invasoren zur Wehr gesetzt hatten. Das Konzept des "Guten Lebens", das die aktuelle Regierung von Präsident Rafael Correa in Anlehnung an die indigene Kosmovision verfolge, sei ein effektiver Gegenpol zur Selbstsucht des Neoliberalismus.
Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño – neben dem Ersten Vizepräsidenten den Staatsrates Kubas, Miguel Díaz-Canel, der ranghöchste Gast bei der Eröffnung – hob Kubas Rolle in der Alphabetisierung hervor, sowohl im eigenen Land, als auch in Lateinamerika. "Heute verfallen unsere Gesellschaften einer Kultur den Banalen, des Trivialen und des Fernsehens", so Patiño. Eine Gesellschaft, die nicht lese, verliere aber ihre Fähigkeit zur Abstraktion und Debatte. Die Integrationsprozesse in Lateinamerika zielten daher auch auf die Förderung der Kultur ab. Wiewohl der Gipfel des lateinamerikanischen und karibischen Staatenbundes Celac die Region vor gerade einmal zwei Wochen in Havanna als "Territorium des Friedens" deklariert habe, sei doch auch das Signet "Territorium der Lektüre" erstrebenswert, so Patiño.
Der politische Charakter der Wahl Ecuadors zum Gastland 2014 wurde bei der Eröffnungsmatinee deutlich. Jeder der Gäste bekam ein Exemplar der kubanischen Ausgabe eines Buches von Rafael Correa, dem Präsidenten des Ehrenlandes, übergeben. "Von der Bananenrepublik zur Nicht-Republik", so der etwas sperrige Titel des gut 130 Seiten fassenden Bandes, in dem der Ökonom Correa die Geschichte von kolonialer zur neoliberalen Dependenz seines Landes schildert, um schließlich die Grundkonzepte seiner "Bürgerrevolution" dazulegen. Dabei setzt sich der Staatschef in zwölf Kapiteln mit der finanziellen und handelspolitischen Abhängigkeit auseinander, in die lateinamerikanische, karibische und andere Staaten des Globalen Südens spätestens seit den geopolitischen Umbrüchen von 1989/1990 getrieben wurden. "In diesem Buch versuche ich mitunter komplizierte, aber wichtige ökonomische Konzepte so einfach wie möglich zu erklären", schreibt Correa, der in seinem Buch vor allem auf die Schuldenpolitik der industriellen Zentren gegenüber den Ländern des Südens eingeht. Es sei ihm ein Anliegen gewesen, die neoliberale "Herrschaft des Kapitals über den Menschen" wissenschaftlich und allgemeinverständlich darzulegen, schreibt Correa, der sein Vorwort mit der kubanischen Revolutionsparole "Hasta la victoria siempre!" schließt: "Immer bis zum Sieg!"
Die diesjährige Buchmesse in Havanna wird zugleich auch wieder ein Ort für Debatten innerhalb des Landes sein, das sich inmitten eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs befindet. Die deutsche Solidaritätsorganisation Cuba Sí hat auch vor diesem Hintergrund den ehemaligen Ministerpräsidenten und Ehrenvorsitzenden der Linkspartei, Hans Modrow, nach Kuba eingeladen. Er wird am Sonntag im größten Saal der Festungsanlage Fortaleza de San Carlos de la Cabaña die spanischsprachige Ausgabe seines Buches "Perestroika. Wie ich sie sehe" vorstellen. Die Debatte über das Scheitern des europäischen Sozialismus wird damit inmitten eines Prozesses der – wie es hier heißt – "Aktualisierung" des kubanischen Sozialismus geführt. Unterstützt wird die Präsenz von Hans Modrows Buch vom Mexiko-Büro der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Gemeinsam mit der kubanischen Soziologie-Zeitschrift Temas sowie Vertretern aus Vietnam und China werden die RLS und Modrow im Rahmen der Buchmesse zudem Bilanz und Ausblick des sozialistischen Modells diskutieren.
Die Offenheit in der innerkubanischen Debatte zeigt sich aber auch an anderen Stellen. So widmet die Messezeitschrift "El tintero", eine Beilage der Tageszeitung Juventud Rebelde des Kommunistischen Jugendverbandes UJC, der Dichterin Reina María Rodríguez eine Seite. Rodríguez führte in den 1990er Jahren eine durchaus kritische Schriftstellergruppe an, aus der die unabhängige Zeitschrift "Azoteas" entstand. Ihre Präsenz auf der Buchmesse belegt, dass die außerstaatliche Kulturproduktion, die in der Krise der 1990er Jahre und dem mit ihr einhergehenden Rückzug des Staates entstanden war, über die damals gewachsenen transnationalen Netzwerke zwischen emigrierten Autoren und Schriftstellern auf der Insel bis heute nachwirkt.
Überschattet wurde der Start der Buchmesse vom überraschenden Tod des kubanischen Liedermachers Santiago Feliú. Bei der Eröffnung kam es dem ecuadorianischen Außenminister Patiño zu, den Sänger zu ehren. Er habe 1979 in seinem Liebeslied "An Barbara" gesungen: Wenn aus meiner Stimme das Lied erblüht/ als Grund Deines Gebens/ Wenn in Deinen Augen die Güte liegt /die meinem Vers sein Leben schenkt/ dann lass mich nicht gehen. Gehen lassen wolle man Feliú auch nach seinem plötzlichen Tod nicht, sagte der ecuadorianische Minister unter dem Applaus der Anwesenden.
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