10.03.2020 Druckversion

"Lügen sind oft leichter zu glauben"

Yoerky Sánchez Cuellar, Mitglied des Staatsrats in Kuba, über die US-Politik in Lateinamerika, das Scheitern des Neoliberalismus in Argentinien und kubanische Ärzte in Brasilien
Foto: nd/Ulli Winkler
Foto: nd/Ulli Winkler

Lateinamerika steckt in einer turbulenten Phase. Ein Putsch im vergangenen November in Bolivien gegen Eva Morales nach umstrittenen Wahlen, ein Sieg der peronistischen Linken in Argentinien, Massenproteste gegen die neoliberalen Regierungen in Chile, Ecuador und Kolumbien, der Machtkampf in Venezuela. Ist Kuba eine Insel der Stabilität in diesen Turbulenzen?

Ja. Kuba hat seit dem Sieg der Revolution 1959 unterschiedliche Etappen durchlaufen, aber derzeit ist es stabil. In den ersten Jahren nach der Revolution hatten wir mit Banditentum zu kämpfen, mit terroristischen Attentaten. In den Geheimarchiven der USA ist dazu einiges zu finden, manches inzwischen öffentlich eingestanden. Kuba hat einige schwierige Etappen durchschritten, bis wir zur Stabilität gelangt sind, die wir derzeit genießen, eine politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität Die unterscheidet sich in der Tat sehr von dem, was sich in vielen Regionen in Lateinamerika derzeit abspielt.


Wie schätzen Sie diese Entwicklungen ein?

Wir sehen das mit großer Sorge. Das lässt uns nicht kalt, aber Kuba ist eine Insel, eine Insel frei von Neoliberalismus. Was in Lateinamerika zum Beispiel in Chile passiert, ist ein Aufstand gegen Neoliberalismus. Chile ist seit dem Putsch von Augusto Pinochet gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende 1973 ein Modell des Neoliberalismus. Es wurde von den USA als Allheilmittel für die ganze Region gepriesen: Der Staat reduziert auf einen Nachtwächterstaat, freier Markt ohne Regulierung, Privatisierung aller öffentlichen Güter von Bildung über Gesundheit bis hin zu den Parks. Der Neoliberalismus wurde als Lösung aller Probleme Lateinamerikas und der Karibik präsentiert. Das hat sich seit dem vergangenen Jahr erledigt: Es stellte sich mit dem Fall Chile heraus, dass der Neoliberalismus in Lateinamerika gescheitert ist.

Dafür spricht, dass er in Argentinien mit der neoliberalen Regierung von Mauricio Macri abgewählt wurde, aber die Tendenz ist ja auf dem Kontinent nicht einheitlich.

In Argentinien ist sie eindeutig. Die Tatsache, dass dort mit dem linken Peronisten Alberto Fernández und seiner Vizepräsidentin Cristina Kirchner die neoliberale Ära von Macri nach nur vier Jahren beendet wurde, zeigt deutlich das Scheitern des Neoliberalismus dort. Macri hat es in vier Jahren geschafft, alles zu verschlechtern, die wirtschaftliche und soziale Lage, den Schuldenstand, alles. Die Schulden sind jetzt de facto unbezahlbar. Komplettes Versagen. Die ganzen sozialen Fortschritte der Kirchner-Ära (2003–2015, d. Red.) hat er zerstört. Die jetzige Regierung überlegt nun, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen kann. Alberto Fernández hat klar gesagt, dass er mit dem Internationalen Währungsfonds über die 57 Milliarden Dollar verhandeln muss, die Macri dort an Kredit neu aufgenommen hat. Der Neoliberalismus ist in Argentinien am Ende.

Was ist mit Brasilien unter dem ultrarechten Präsidenten Bolsonaro?

In Brasilien gibt es die Praxis, dass die Justiz als politische Waffe von der Rechten eingesetzt wird wie gegen die linken Präsidenten Lula und Dilma Rousseff. Bolsonaros Aufstieg ist besorgniserregend. Sein Faschismus ähnelt dem von Chiles Ex-Dikatoren Augusto Pinochet (1973–90), auf die neuen Zeiten angepasst. Das Erste, was er in Bezug auf Kuba gemacht hat, war das Programm "Mais Médicos" (Mehr Mediziner) zu torpedieren, unter dem kubanische Ärzte in Brasilien gearbeitet und dort Lücken im Gesundheitssystem gestopft haben. Die Kubaner stellten unter Vermittlung der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (OPS) mehr als die Hälfte des medizinischen Personals des staatlichen Gesundheitsprogramms "Mais Médicos". Dieses Abkommen hat Bolsonaro aufgekündigt. Obwohl die kubanischen Ärzte in der ganzen Welt einen guten Ruf genießen.

Nicht nur in Brasilien, auch in Bolivien hat die Rechte nach dem Putsch gegen Evo Morales Oberwasser.

Es gilt auf alle Fälle festzuhalten: In Bolivien gab es einen Putsch gegen Evo Morales. Umstrittene Wahlen? Mit diesem Begriff bin ich nicht einverstanden. Es gab Unregelmäßigkeiten, die es auch in anderen Wahlen gab, aber es gab keinen nachgewiesenen Wahlbetrug, in keinem Wahlbericht findet sich das Wort Betrug, lediglich von Unregelmäßigkeiten ist die Rede. In Bolivien ist jetzt die Rechte an der Macht. Mitte November sind sechs kubanische Ärzte kurzzeitig festgenommen worden, weil sie die Proteste gegen den Putsch in Bolivien angefacht und finanziert haben sollen. Absurd. Die kubanische Regierung hat dagegen scharf protestiert und beschloss den Abzug der Ärztemission aus Bolivien mit immerhin 750 Spezialisten. Boliviens Rechtsregierung hat auch behauptet, dass es kubanische Militärs in Bolivien gäbe. Auch das ist eine Falschbehauptung. Kuba hat Bolivien nur mit Ärzten unterstützt Das ist nun mit dem Putsch vorbei.


Der Neoliberalismus mag gescheitert sein, geschlagen gibt er sich jedoch nicht, oder?

Als Fazit muss man feststellen: Lateinamerika ist derzeit ein umkämpfter Kontinent von Chile bis Venezuela. Im vergangenen Jahr haben die USA als Achse ihrer Außenpolitik erneut die Monroe-Doktrin von 1823 ausgepackt: Amerika den Amerikanern, gemeint ist den US-Amerikanern. Das ist die älteste außenpolitische Doktrin der USA. Sie wurde revitalisiert Gemeinsam mit der rechten Oligarchie in Lateinamerika beabsichtigen die USA, das Rad der Zeit zurückzudrehen, inklusive aller sozialen Fortschritte, die es unter den progressiven Regierungen in der vergangenen Dekade gab – ob unter Lula in Brasilien, Chávez in Venezuela, Morales in Bolivien, Correa in Ecuador oder Nestór und Cristina Kirchner in Argentinien. Kuba ist weiter ein Beispiel für progressive Politik und für die USA damit eine Bedrohung. Nicht weil Kuba groß ist oder territoriale Ansprüche hat, sondern weil es den anderen lateinamerikanischen Völkern als Beispiel dienen kann, dass es möglich ist, gegen die von den USA vorgegebenen Modelle zu kämpfen.


Hat der Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez 2013 den Kampf um die Hegemonie zwischen progressiv und rechts stark beeinflusst? Immerhin sind seitdem in Brasilien, Chile und Ecuador neoliberale Regierungen an die Schalthebel gekommen. Oder schlägt nur das Pendel mal wieder anders aus, in Argentinien und Mexiko mit Andrés Manuel López Obrador ging es ja in die andere Richtung. Was denken Sie?

Der Tod von Chávez hat selbstverständlich großen Einfluss auf die folgende Entwicklung in Lateinamerika gehabt. Chávez war eine historische Figur, die in seiner Amtszeit von 1999 bis 2013 die Geschicke in Lateinamerika und der Karibik verändert hat, mit seinen vielen Initiativen wie dem Staatenbündnis der Bolivarianischen Allianz für die Völker (ALBA) oder Petrocaribe, mit dem karibische Länder mit venezolanischem Erdöl zu Vorzugspreisen versorgt wurden. Chávez ging es um die progressive Umgestaltung der ganzen Region, er war in Venezuela sehr beliebt, auf dem ganzen Kontinent wegen seines Charismas und seiner Herkunft aus dem normalen Volk und nicht der Oberschicht. Sein Tod war ein schwerer Schlag. Aber die venezolanische Regierung von Nicolás Maduro folgt weiter den Idealen von Chávez. Maduro war ja als Nachfolger von Chávez selbst vorgeschlagen worden. Maduro sieht sich seit dem Beginn seiner Präsidentschaft 2013 schweren Angriffen der Opposition bis hin zu Putschversuchen ausgesetzt. Bis jetzt hat er aber standgehalten und auch den Rückhalt der Bevölkerung.


Mehr Rückhalt als der selbst ernannte Präsident Juan Guaidó schon, aber der Rückhalt bröckelt, rund ein Drittel steht laut Umfragen noch hinter Maduro.

Es wird nicht einfacher für Maduro, aber Kubas Haltung bleibt klar: Wir unterstützen die bolivarianische Revolution und die Regierung Maduro. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass die venezolanische Bevölkerung entscheiden muss, welchen Weg das Land gehen soll – ohne ausländische Einmischung. Kuba respektiert Venezuela, Venezuela respektiert Kuba. Wir haben keine militärischen Kräfte in Venezuela. Es ist eine große Lüge, dass das immer wieder vor allem von den USA behauptet wird. Zumal mit diesem Argument die Trump-Regierung an der Sanktionsschraube gegen Kuba dreht. Kuba kooperiert mit Venezuela im Gesundheitsbereich, kubanische Ärzte und medizinisches Personal sind dort, aber keine Soldaten. Wir unterstützen Maduro nicht militärisch. Es sind dieselben Kreise, die sagen, die Kubaner sterben vor Hunger, die behaupten, Kuba würde weltweit militärische Operationen finanzieren. Das ist absurd. Es gibt den berühmten Satz von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels: "Wenn man eine große Lüge erzählt und sie tausend Mal wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben." Das ist ein Problem. Heutzutage hat die Wahrheit oft weniger Gewicht als die Lüge. Denn Lügen sind oft leichter zu glauben und schnell zu verbreiten als die Wahrheit. Ein Beispiel ist die Lüge vom Wahlbetrug in Bolivien, belegt sind nur Unregelmäßigkeiten, wie es sie auch bei anderen Wahlen andernorts gegeben hat.


Was sind die Folgen der jüngsten Verschärfung der US-Blockade gegen Kuba und Venezuela? Steht Kuba eine neue Sonderperiode wie in den Krisenjahren der 90er bevor?

Kuba steht sicher nicht vor einer neuen Spezialperiode. Wir sind an einem ganz anderen Punkt Damals haben wir nach dem Zusammenbruch des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe über 80 Prozent unseres internationalen Handels und unserer Wirtschaftsleistung verloren. Wir standen allein, hatte keine Bündnispartner. Strom fiel oft mehr als 16 Stunden am Tag aus, die Straßen waren voll von beschäftigungslos gewordenen Kubanern. Es kamen auch keine Touristen in dieser Zeit. Das ist jetzt anders. Wir haben mit fast allen Ländern der Welt diplomatische und Handelsbeziehungen, es kommen Jahr für Jahr viele Touristen, 2019 waren es 4,3 Millionen. Dessen ungeachtet halten die USA die Blockade aufrecht. Und die USA verfolgen mit der Verschärfung der Blockade ein Ziel: nicht nur, Kuba in die Sonderperiode zurückzuversetzen. Nein, es geht darum, die Rückkehr zum kapitalistischen Kuba von vor 1959 zu erreichen.


Die Angriffe der USA gehen über die Blockade hinaus?

Ja. Unsere Mediziner, die in Auslandsmissionen tätig sind, wurden von den USA kriminalisiert Und zum Jahresende 2019 gingen die USA auch gegen die Öltanker vor, die nach Kuba unterwegs waren. Für Reedereien, die Erdöl aus Venezuela nach Kuba transportieren, wurden Strafen verhängt. Kuba soll von Öllieferungen aus Venezuela abgeschnitten werden. Das Argument der USA ist wieder: Kuba unterstütze Venezuela militärisch. Damit attackieren die USA sowohl Venezuela als auch Kuba. Das Argument bleibt falsch, aber viele Leute glauben, dass Kuba Venezuela militärisch unterstützt Die USA haben kein Recht, den Handel zwischen den beiden Ländern einzuschränken. Das ist ein illegitimer und illegaler Akt, ein Akt zeitgenössischer Piraterie. All dies geschieht mit dem Ziel, Kuba zu schwächen, als sozialistische, rebellische Insel inmitten aller politischen Stürme, die derzeit durch Lateinamerika ziehen.


Kann Kuba den Stürmen standhalten?

In Kuba hat Präsident Miguel Diaz-Canel einen sehr populären Spruch über das Jahr 2019 geprägt: Sie haben uns erschossen, aber wir leben noch. Sie haben 2019 alles versucht, um uns zu erledigen, aber sie haben es nicht geschafft. Wir haben gelitten, auch das Wachsrum der Wirtschaft, dennoch lag es mit 1,5 Prozent über dem Schnitt von einem Prozent in der Region. Wir haben trotz der Krise keine Schulen geschlossen, wir haben keine Krankenhäuser geschlossen und wir haben auch die Strom- und Treibstoffpreise nicht erhöht. Trotz all des Gegenwinds schreiten wir voran.


Yoerky Sánchez Cuellar ist Chefredakteur der Tageszeitung "Juventud Rebelde" und Mitglied des Staatsrates von Kuba. Über die Entwicklung in Lateinamerika rund um das Jahr der Proteste 2019 und die Aussichten für die lateinamerikanische Linke auf dem Subkontinent und der Karibikinsel sprach mit ihm Martin Ling.

 

Quelle: Tageszeitung neues deutschland, 9. März 2020, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133996.kuba-luegen-sind-oft-leichter-zu-glauben.html

Veröffentlicht in Aktuelles | Tags: Kuba, Lateinamerika, US-Politik